"Schönheit und Eleganz der Verfassung"
Mitte das Jahres 2019 hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen über die „Schönheit und Eleganz der Verfassung“ gesprochen. Der Anlass dazu ist hinlänglich bekannt. Es hat sich dabei gezeigt, dass die österreichische Verfassung für nicht alltägliche Situationen praktikable Lösungen bereithält. Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) wird heuer – 2020 – 100 Jahre alt. Grund genug, nach dem "Vater" bzw. dem "Archtitekten" des B-VG zu fragen.
Hans Kelsen
Hans Kelsen war einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Er gilt als „Architekt“ des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG), welches das "Kernstück" der österreichischen Bundesverfassung bildet.
1881 wurde Hans Kelsen in Prag als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Seine Eltern übersiedelten mit ihm nach Wien als er drei Jahre alt war. Kelsen absolvierte das rechtswissenschaftliche Studium an der Universität Wien, wo er später Professor für Verfassungsrecht wurde. Zudem war er von 1919 bis 1930 auch als Verfassungsrichter tätig.
Nach Gründung der ersten Republik im Jahr 1918 wurde Kelsen vom damaligen Staatskanzler Karl Renner beauftragt, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Den politischen Input erhielt Kelsen von den damaligen Entscheidungsträgern; Kelsen fiel vor allem die Aufgabe zu, die Wünsche der Politik in ein System zu bringen und in eine sprachliche Form zu gießen. Inhaltlich hat er insbesondere die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit geprägt. 1920 wurde das B-VG beschlossen und 1929 wesentlich novelliert. Von 1934 bis 1945 war das B-VG aufgrund zweier Diktaturen außer Kraft gesetzt. Nach Ende des zweiten Weltkriegs wurde die zweite Republik ausgerufen und das B-VG trat wieder in Kraft.
Da sich Kelsen vermehrt Anfeindungen ausgesetzt sah, verließ er 1930 Österreich. Er war danach als Professor in Köln, Genf und Prag tätig. Kelsen emigrierte 1940 in die USA, wo er an bedeutenden Universitäten wie Harvard und Berkeley lehrte. 1973 starb er in den USA.
Die "Reine Rechtslehre"
Insbesondere Kelsens Publikationen im Bereich der Rechtstheorie genießen heute noch hohes Ansehen. Sein bekanntestes Werk ist die „Reine Rechtslehre“.
Kelsen ist einer der bedeutensten Vertreter des sogenannten "Rechtspositivismus", der insbesondere Recht und Moral streng getrennt voneinander versteht. Die Rechtspositivisten sehen Recht als rein von Menschen geschaffen und nicht als etwas, das man aus der Natur oder Vernunft der Menschen ableiten kann. Normen der Moral oder Gerechtigkeit sind nach Ansicht der Rechtspositivisten wissenschaftlich nicht zugänglich. Damit gilt der Rechtspositivismus als Gegenrichtung zur Naturrechtslehre, die bis ins 19. Jahrhundert herrschend war.
In seiner "Reinen Rechtslehre" versucht Kelsen, eine von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte … Rechtstheorie zu entwickeln (aus dem Vorwort zu "Reine Rechtslehre", 1. Auflage, 1934).
Rechtssätze beschreiben nicht, wie etwas ist, sondern wie etwas sein „soll“. Jede Rechtsordnung enthält Gebote und Verbote, an die Folgen geknüpft sind. Die Frage ist nun, wie Recht als solche normative Ordnung erklärt werden kann.
Die Geltung jedes Rechtsaktes leitet sich im „Stufenbau der Rechtsordnung“ von einem darüber stehenden Rechtsakt ab. Es galt für Kelsen zu beantworten, was der Verfassung, als höchsten Rechtsakt, Geltung verschafft. Als Rechtspositivist war ihm dazu ein Rückgriff auf außerrechtliche Normen verwehrt; er lehnte es aber auch ab, aus einem bloßen Faktum (etwa der Beschlussfassung über eine "historisch erste Verfassung") als "Sein" ein "Sollen" abzuleiten. Um dennoch die Geltung von Rechtsnormen zu erklären, bediente sich Kelsen der sogenannten „Grundnorm“ als Hypothese bzw. Fiktion. Die „Grundnorm“ besagt – kurzgefasst – dass man sich an die Verfassung halten soll. Sie ist – eben als Hypothese – keine moralische Legitimation einer bestehenden Rechtsordnung, sondern nur ein Hilfsmittel, um Recht als geltend beschreiben zu können. Diese "Grundnorm" ist das Kernstück der "Reinen Rechtslehre" Kelsens.
Bei der damit verbundenen Begriffsbildung könnte Recht jedoch jeden Inhalt haben. Rechtsnormen nach einem moralischen Maßstab zu bewerten sei nicht Aufgabe der Rechtswissenschaft. Auch führte die "Reinheit" der Rechtslehre Kelsens dazu, dass es bei der Auslegung jeweils mehrere gleichwertige Varianten als Ergebnis gäbe – hier wäre es dann die Aufgabe des Rechtsanwenders durch eigenen Willensakt eine Entscheidung zu treffen.
Nach dem zweiten Weltkrieg gewannen naturrechtliche Ansätze wieder mehr an Bedeutung. Gerade in Anbetracht der Greueltaten des Nationalsozialismus wurde "Rechtsakten", welche gegen fundamentale Grundsätze von Moral und Gerechtigkeit verstoßen, die Eigenschaft als "Recht" abgesprochen. Auch unter Rechtspositivisten wird darüber hinaus die Meinung vertreten, dass die Interpretation von Rechtsnormen eine „Wertbetrachtung“ darstellt und somit mehr ist als nur gleichwertige Ergebnisse aufzuzeigen.
Kelsens große Verdienste für die österreichische Bundesverfassung sind unbestritten. An seiner Rechtstheorie "scheiden sich" jedoch "die Geister".
Foto: https://freestocks.org.
Gekürzte Fassung eines von mir am 13.10.2019 gehaltenen Vortrages im Rahmen von „Tea & Time“ im Hotel At the Park, Baden bei Wien.