Kündigungsfristen für ArbeiterInnen – Ausnahmen für "Saisonbranchen" verfassungswidrig?
Der Oberste Gerichtshof (OGH) stellte mit Beschluss vom 14.02.2024 zu 9 ObA 38/23p an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) den Antrag, die in § 1159 ABGB enthaltenen Ausnahmebestimmungen hinsichtlich Kündigungsfristen für ArbeiterInnen in „Saisonbranchen“ wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Aufgrund dieses Antrages (und eines weiteren Gerichtsantrages) sind derzeit beim VfGH zu G 29/2024 und G 34/2024 Normprüfungsverfahren anhängig.
Angleichung ArbeiterInnen / Angestellte
Bis zum 30.09.2021 waren die Kündigungsfristen für Angestellte und ArbeiterInnen unterschiedlich geregelt. Während etwa der/die ArbeitgeberIn gemäß § 20 AngG bei der Kündigung eines/einer Angestellten eine Frist von (je nach Beschäftigungsdauer) sechs Wochen bis zu fünf Monaten (zum Quartalsende oder – bei entsprechender Vereinbarung – zum 15. oder Monatsletzten) einhalten musste, konnte ein/e ArbeiterIn (je nach anzuwendendem Kollektivvertrag) auch sehr kurzfristig gekündigt werden. Seit dem 01.10.2021 gelten für ArbeiterInnen gemäß § 1159 ABGB auch die für Angestellte geltenden, längeren Kündigungsfristen. In Branchen, in denen „Saisonbetriebe“ überwiegen, können durch Kollektivvertrag jedoch auch abweichende Regelungen (insbesondere kürzere Kündigungsfristen und abweichende Kündigungstermine) festgelegt werden (§ 1159 Abs 2 und 4 ABGB).
Anlass für die Bedenken des OGH
Anlass für die Bedenken des OGH hinsichtlich der in § 1159 ABGB enthaltenen Ausnahmebestimmung war ein bei ihm anhängiges Verfahren, in welchem sich der beklagte Arbeitgeber auf diese Ausnahmebestimmung in § 1159 Abs 2 ABGB und die im Kollektivvertrag für Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe geregelte Kündigungsfrist von 14 Tagen berufen hatte. Da nach Ansicht des OGH Zweifel an der Verfassungskonformität des § 1159 ABGB bestehen, stellte der OGH mit Beschluss vom 14.02.2024 zu 9 ObA 38/23p den Antrag an den VfGH, die gesamte Bestimmung des § 1159 ABGB (hilfsweise: nur die in Abs 2 bzw Abs 4 enthaltenen Ausnahmebestimmungen) aufzuheben. Bereits zuvor hatte sich der OGH in zwei „besonderen Feststellungsverfahren“ gemäß § 54 Abs 2 ASGG mit den im § 1159 ABGB enthaltenen Ausnahmebestimmungen (auch im Zusammenhang mit der im Kollektivvertrag für Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe geregeltem Kündigungsfrist) zu beschäftigen gehabt (OGH 9 ObA 116/21f und 9 ObA 137/21v). Sowohl die Wirtschaftskammer als auch der ÖGB hatten anhand von umfangreichem Zahlenmaterial argumentiert, dass in dieser Branche Saisonbetriebe überwiegen bzw nicht überwiegen; der OGH konnte daraus jedoch weder die eine noch die andere Schlussfolgerung ableiten. In der Literatur umstritten ist auch, ob der/die ArbeitgeberIn das Vorliegen einer „Saisonbrache“ beweisen muss (idS etwa die Entscheidungen OLG Wien, 23.03.2023, 10 Ra 5/23p und OLG Innsbruck, 25.04.2023, 13 Ra 35/22b) oder der/die ArbeitnehmerIn.
Begründung des OGH
Verstoß gegen das Legalitätsprinzip: Unter dem Legalitätsprinzip versteht man, dass die gesamte staatliche Vollziehung (Verwaltung und Gerichtsbarkeit) nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden darf (Art 18 Bundes-Verfassungsgesetz, B-VG). Die Gesetzgebung muss daher das „Ob“ und das „Wie“ des staatlichen Handelns vorherbestimmen (Bestimmtheitsgebot). Aus Sicht des OGH verstoßen die in § 1159 ABGB enthaltenen Ausnahmebestimmungen gegen das Legalitätsprinzip, da jene Voraussetzungen, die den Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung („Saisonbetriebe überwiegen“) eröffnen sollen, aus mehreren Gründen nicht ausreichend bestimmt sind. Aus diesem Grund ist für die Parteien eines Arbeitsvertrages unklar, welche Regelung (Kollektivvertrag oder Gesetz) Vorrang hat.
Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz: Der in Art 2 StGG und Art 7 Abs 1 B-VG geregelte Gleichheitsgrundsatz verpflichtet den Gesetzgeber, an gleiche Tatbestände gleiche Rechtsfolgen zu knüpfen, aber andererseits bei entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen auch unterschiedliche Regelungen vorzusehen. Nach Ansicht des OGH verstößt § 1159 ABGB gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz, da auch jene Betriebe, die selbst keine „Saisonbetriebe“ sind (und bei denen somit das „Belastungsargument“ mangels Saisonabhängigkeit gar nicht greift), die in § 1159 ABGB enthaltene Ausnahmeregelung für sich in Anspruch nehmen können, wenn sie einer Branche angehören, in der Saisonbetriebe überwiegen (und der jeweils anzuwendende Kollektivvertrag kürzere Kündigungsfristen bzw abweichende Kündigungstermine vorsieht.
Normprüfungsverfahren des VfGH
Es bleibt abzuwarten, wie der VfGH nunmehr entscheidet. Sollte er sich den Bedenken des OGH anschließen, wäre sowohl eine Aufhebung lediglich der Ausnahmeregelungen für „Saisonbranchen“ als auch eine Aufhebung des gesamten § 1159 ABGB denkbar (in welchem Fall dann wohl eine gesetzliche Klärung zu erfolgen hätte, da es ansonsten gar keine gesetzlichen Kündigungsfristen für ArbeiterInnen mehr gäbe). Wie sich jedenfalls gezeigt hat, ist die bestehende Rechtsunsicherheit sowohl für ArbeitgeberInnen als auch für ArbeitnehmerInnen einiger Branchen (nicht nur für das Hotel- und Gastgewerbe) unzumutbar: Wenn niemand feststellen kann, ob es in einer Branche mehr Saisonbetriebe oder „Nichtsaisonbetriebe“ gibt, weiß auch niemand, welche Kündigungsfrist anzuwenden ist.
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